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Kinder, raus mit euch! Warum auf das Bedürfnis unserer Kinder nach Natur nicht vergessen werden darf

Wie sieht der Alltag unserer (Klein-)Kinder aus? Kindgerecht? Oder müssen Kinder sich heutzutage nach den Terminen, Arbeitszeiten und Ansprüchen der Erwachsenen richten? Werden nicht schon Kleinstkinder in arbeitsmäßige Verhältnisse gedrängt, der Tag beginnt um 6 Uhr morgens, sechs bis 8 Stunden (in Ausnahmefällen gar 10 Stunden) Fremdbetreuung, nach Hause, Abendessen, ins Bett, am nächsten Tag das Ganze wieder von vorne. Die Freizeit fällt wochentags aus. Und sollte ein Kind doch einmal ein paar Stunden für sich haben, werden diese immer häufiger mit mobilen Endgeräten verbracht – anstatt an der frischen Luft, im Freien, in der Natur.

 

Früher war alles besser? So schlimm ist es wohl nicht, doch unleugbar nimmt die Aufenthaltsdauer von Kindern in der Natur immer weiter ab. Mangels Zeit, Lust, Desinteresse, aufgrund anderer Hobbys, die vorgehen und vermeintlich wichtiger sind. Studien belegen, dass „[i]mmer mehr junge Menschen auf[wachsen], ohne mit der belebten Umwelt in Berührung zu kommen“ (Der Standard). Früher spielten „Kinder auf der Straße Räuber und Gendarm, bauten Baumhäuser – aus Brettern und Planen, nicht aus Minecraft-Würfeln –, stauten Bäche auf und kamen abends dreckig nach Hause. Heute verbringen Kinder einen großen Teil ihrer Zeit in Innenräumen und kommen mit der Natur kaum noch in Berührung.“ (Ebd.)

Der 7. „Jugendreport Natur“, der das Verhältnis junger Menschen zur Natur untersucht, stellte 2016 fest: „Die Distanz zur Natur wird immer größer … grundlegendes Wissen [geht] verloren. So wussten nur 35 Prozent der Befragten, wo die Sonne aufgeht. Ein Fünftel kreuzte ‚Norden‘ an. 2010 hatten noch zwei Drittel der Teilnehmer die Frage richtig beantwortet.“ (Ebd.) Leider scheint sich der deutschsprachige Raum mit dem Phänomen der Naturentfremdung ansonsten (noch) kaum zu beschäftigen. Im englischen Sprachraum allerdings „gibt es ein wachsendes Bewusstsein für das Thema und bereits eine griffige Bezeichnung für das Phänomen: ‚Nature Deficit Disorder‘. Achtjährige, stellte eine Studie aus England fest, können zwar 78 Prozent aller Pokémon-Charaktere unterscheiden aber nur 53 Prozent der gewöhnlichen britischen Tierarten.“ (Ebd.)

 

Das Problem beginnt – wie so oft – bereits bei der Elterngeneration. Wenn Erwachsene nicht mehr hinausgehen, werden es die Kinder auch nicht mehr tun. Nachdenklich stimmt: „Seit den 1950er-Jahren gehen Vogel-, Baum-, und Blumennamen und andere Naturbegriffe wie Sonnenuntergang aus unserem Sprachgebrauch verloren. Zum Teil ist das gar eine bewusste Entscheidung: Als 2015 die Jugendausgabe des Oxford Dictionary neu aufgelegt wurde, [wurden] Begriffe wie Kanarienvogel, Grasland und Brombeere (engl. blackberry) aus dem Jugendlexikon gestrichen …, um Wörtern wie Blog, Voicemail und Blackberry (Smartphonemarke) Platz zu machen“ (ebd.). Wieder liegt die Ursache im technischen Fortschritt, den „Erholungs- und Unterhaltungsmöglichkeiten zu Hause, also Fernsehen, Internet und Videospiele. Spielen in virtuellen Räumen“ (ebd.) – und nicht mehr in der Wirklichkeit.

 

Wie wichtig der Kontakt zur Natur für uns alle wäre, habe ich in meinen Beiträgen bereits erläutert. Wie essenziell er allerdings für ein gesundes und gutes Aufwachsen ist, mögen viele heutzutage verdrängen. Doch „Kinder benötigen das Draußensein genauso wie Bewegung, Körperkontakt, elterliche Liebe und all das, was zu geben wir uns täglich bemühen“, schreibt Malte Roeper in seinem Bildband „Kinder raus. Zurück zur Natur: artgerechtes Leben für den kleinen Homo sapiens“. Noch drastischer formulierte es in den 60er-Jahren der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich: „Der junge Mensch braucht seinesgleichen – nämlich Tiere, Wasser, Dreck, Gebüsche, Spielraum. Man kann ihn auch ohne dies alles aufwachsen lassen, mit Stofftieren, Teppichen, auf asphaltierten Straßen und Höfen. Er überlebt es, doch man soll sich nicht wundern, wenn er später bestimmte soziale Grundleistungen nicht mehr erlernt.“ (Kurier)

 

Der Biologe und Naturphilosoph Andreas Weber hält es gar „für eine zivilisatorische Katastrophe, [dass Kinder] kaum noch im Freien herumstrolchen“ (GEO). Er erläutert eindrücklich, wie sehr (kindliche) Lebensräume nicht nur durch das tatsächliche Schwinden der Natur, sondern auch durch elterliche Ängste, dem Kind könne etwas zustoßen, wenn es sich frei und unbeaufsichtigt in der Natur bewegt, beschnitten werden. Weber bezeichnet den „Abschied der Kinder von der Natur [als] nicht folgenlos. Denn mit dem Schwinden des ungezügelten Spiels im Freien droht etwas Unersetzliches verloren zu gehen: die Möglichkeit, seelische, körperliche und geistige Potenziale so zu entfalten, dass Kinder zu erfüllten Menschen werden.“ Weber kommt zum Schluss, dass Erwachsene den Kindern die Lebendigkeit stehlen, was viele Kognitionsforscher „für eine zentrale Ursache in der Misere der Kinder und Jugendlichen [halten].“ (Ebd.)

 

Die Erfahrungen aus der Praxis zeigen auch mir, dass viele akute Belastungen mithilfe einer Therapie im Heilraum Natur rasch gelindert werden können. Alleine der Aufenthalt im Freien, das Sein in einer Umgebung, die es nicht nur dem Auge, sondern auch dem Kopf erlaubt, „weiterzublicken“, in die Ferne zu sehen, kann Entlastung bringen. Mir ist bewusst, dass Alltag und moderne Hektik insbesondere in der Stadt den Aufenthalt in der Natur erschweren, doch wieder darf ich daran erinnern, dass die meisten Familien (auch unbewusst) zu viel Zeit mit mobilen Geräten verbringen. Zeit, die für einen kleinen Spaziergang genutzt werden könnte. Und selbst wenn es „nur“ für einen kurzen Abstecher auf den Spielplatz reicht: Versuchen Sie, Ihr Kind ohne Einschränkung den Ort frei erkunden zu lassen. Setzen Sie sich auf eine Bank, und schauen Sie einfach nur hin – nicht auf ein Display, sondern zu ihrem Kind, in den Himmel, in die Bäume.

 

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Studien aus dem englischen Sprachraum, die belegen, wie wichtig Naturerfahrungen für Kinder sind, finden Sie unter www.childrenandnature.org.

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Michaela Legl-Bruckdorf, B.A., MSc

Psychotherapeutin 

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