Im Oktober habe ich die Vielfalt von Autismus und die Herausforderungen, denen Betroffene, ihre Familie und Freund:innen gegenüberstehen, geschildert. Wie beschrieben ist die Autismus-Spektrum-Störung (ASS) ein facettenreiches neurologisches Entwicklungsprofil, das die Art und Weise beeinflusst, wie Menschen die Welt um sich herum wahrnehmen, interagieren und kommunizieren. Dieses Spektrum umfasst eine breite Palette an Ausprägungen und Auswirkungen auf das tägliche Leben von Betroffenen.
Geschlechterunterschiede bei Diagnose und Erkrankung
Autismus ist eine neurologische Entwicklungsstörung, die sich auf die soziale Interaktion, Kommunikation und Verhaltensmuster auswirkt. Die Prävalenz von Autismus unterscheidet sich jedoch zwischen den Geschlechtern: „Mädchen haben deutlich seltener Autismus als Jungen. Dies könnte an Genen oder Hormonen liegen – zum Teil jedoch auch am Diagnose-System.“ (Hauschild, 2014)
Tatsächlich wird Autismus bei Jungen häufiger diagnostiziert als bei Mädchen. „Von 1000 Kindern leiden etwa sechs bis sieben an einer autistischen Störung, Jungen viermal häufiger als Mädchen.“ (Ebda.) Die Gründe für diese geschlechtsspezifischen Unterschiede sind noch nicht vollständig geklärt und können auf eine Kombination genetischer, hormoneller, neurologischer und sozialer Faktoren zurückzuführen sein. Werling & Geschwind (2013) haben die möglichen Gründe für diese geschlechtsspezifische Diskrepanz untersucht und kamen zum Schluss, dass das Diagnosesystem möglicherweise bestimmte Verhaltensmuster eher bei Jungen als bei Mädchen erkennt, was zu einer Überrepräsentation von Jungen führen könnte. Autismus-Spektrum-Störungen können bei Mädchen oft subtiler auftreten und deshalb möglicherweise übersehen werden. Auch soziale Erwartungen und Stereotypen könnten eine Rolle spielen, da Mädchen möglicherweise besser in der Lage sind, bestimmte soziale Verhaltensweisen zu imitieren. (Vgl. ebda.)
Dass eine frühzeitige Diagnose von Autismus wichtig ist und Akzeptanz sowie Verständnis sowohl der Betroffenen selbst als auch ihres sozialen Umfelds fördern kann, habe ich bereits im Oktober erläutert. Insbesondere frühe Diagnosen bei Jungen könnten den Studienergebnissen zufolge allerdings teilweise auf Stereotype und Geschlechterklischees zurückzuführen sein, die bewirken, dass bestimmte Verhaltensweisen bei Jungen als auffälliger wahrgenommen und früher diagnostiziert werden. (Vgl. ebda.)
Auch Berkel et al. (2018) konnten erheben, dass Autismus bei Jungen häufiger diagnostiziert wird als bei Mädchen. Die Forscher:innen beleuchten unterschiedliche Aspekte, die zur geschlechtsspezifischen Verteilung des Autismus beitragen könnten. Auch hier wird darauf hingewiesen, dass genetische, hormonelle, neurologische und soziale Faktoren eine Rolle spielen könnten.
Geschlechterklischees als Vorurteil und Herausforderung
Deutlich wird, dass Stereotype und Geschlechterklischees Einfluss auf die Diagnose von Autismus haben könnten. Jungen werden oft eher diagnostiziert, da bestimmte Verhaltensweisen bei ihnen als auffälliger wahrgenommen werden. Diese kulturellen Vorstellungen könnten zu einer Verzerrung in der Diagnose führen, da Mädchen mit Autismus möglicherweise in sozialen Situationen besser kompensieren oder sich anders ausdrücken.
Autismus scheint zudem mit dem männlichen Sexualhormon Testosteron in Verbindung zu stehen. Menschen mit Autismus haben demnach ein sehr männlich geprägtes Gehirn aufgrund eines erhöhten Testosteronspiegels. Dies mache es für sie schwierig, sich in andere hineinzuversetzen und angemessen zu reagieren, was Frauen im Allgemeinen eher können. Stattdessen neigen sie dazu, nach klaren Mustern und Regeln zu handeln, die sie leicht verstehen – was für Männer typischerweise einfacher sei. Studien zeigen, dass Kinder, die im Mutterleib erhöhte Testosteronspiegel hatten, später eher autistische Merkmale aufwiesen. (Vgl. Hauschild, 2014)
Generell scheint es für Mediziner:innen und Psycholog:innen schwieriger zu sein, Autismus, insbesondere in subtileren Formen, bei Mädchen zu erkennen. Möglicherweise, weil sich ihre Symptome manchmal von denen der Jungen unterscheiden, wodurch sie möglicherweise nicht so leicht erkannt werden. Mädchen mit Autismus werden möglicherweise übersehen oder falsch diagnostiziert, da ihre Symptome möglicherweise weniger auffällig sind oder sich anders als bei Jungen zeigen. Dieses Missverständnis kann zu Verzögerungen bei der Diagnose und folglich zu einer verzögerten Unterstützung für betroffene Mädchen führen.
Christine Preißmann, eine Medizinerin und selbst von Autismus betroffen, erklärt, dass bei Mädchen Autismus oft nicht erkannt werde, weil sie ihre Schwierigkeiten gut verbergen können. Autistische Mädchen seien normalerweise ruhiger und können ihr Verhalten besser kontrollieren. Daher zeigen sie weniger Aggression oder störendes Verhalten im Unterricht, stattdessen zeichnen sich passive Verhaltensweisen und Rückzug ab. Es sei nicht ungewöhnlich, dass die richtige Diagnose erst im Alter von über 30 Jahren gestellt werde. (Vgl. ebda.)
Zu erkennen ist somit ein klarer Auftrag, in diesem Bereich weitere Forschung anzuregen, um die geschlechtsspezifischen Unterschiede sowohl im Auftreten als auch betreffend die Diagnose von Autismus besser zu verstehen. Ziel sollte es sein, sicherzustellen, dass Diagnose und Unterstützung für Menschen mit Autismus, unabhängig von ihrem Geschlecht, angemessen sind. Das Bewusstsein für diese geschlechtsspezifischen Unterschiede muss jedenfalls geschärft werden, um eine bessere Versorgung und Unterstützung für alle Betroffenen zu gewährleisten. Eine geschlechtsneutrale Diagnostik ist bei der Beurteilung von Autismus wichtig.
Literatur:
Berkelt, S. et al. (2018): Sex Hormones Regulate SHANK Expression. In: Front. Mol. Neurosci., 25 September 2018, Sec. Neuroplasticity and Development, Volume 11 – 2018 (https://doi.org/10.3389/fnmol.2018.00337)
Hauschild, J. (2014): Mädchen fallen durchs Raster. Online: https://www.spiegel.de/gesundheit/psychologie/autismus-haeufiger-bei-jungen-diagnosesystem-auf-dem-pruefstand-a-1003017.html [zul. abger. am 17.10.2023]
Werling, D. & Geschwind, D. (2013): Sex differences in autism spectrum disorders. DOI: 10.1097/WCO.0b013e32835ee548.