Als Psychotherapeutin begegne ich oft Menschen, die schwere seelische Verletzungen erlitten haben. Sei es durch Erfahrungen von Missbrauch, Vernachlässigung oder Gewalt in der Kindheit, durch schmerzhafte Trennungen oder Verluste im Erwachsenenalter oder durch andere traumatische Erlebnisse. Diese Wunden können lange nachwirken und die Lebensqualität und Beziehungsfähigkeit nachhaltig beeinträchtigen.

Ein zentraler Aspekt im Prozess der Heilung und Verwandlung solcher Verletzungen ist das Thema Vergebung. Dabei geht es nicht darum, das erlittene Unrecht zu entschuldigen, zu verharmlosen oder zu vergessen. Vergebung bedeutet vielmehr, sich bewusst zu entscheiden, die Vergangenheit loszulassen und sich von den zerstörerischen Gefühlen von Wut, Hass und Bitterkeit zu befreien. Es ist ein Akt der Selbstermächtigung und Selbstfürsorge, der es uns ermöglicht, im Hier und Jetzt anzukommen und uns dem Leben wieder voll zuzuwenden.
Vergebung ist jedoch ein Prozess, der Zeit, Mut und Mitgefühl erfordert. Oft braucht es zunächst einen sicheren Raum, um das erfahrene Leid überhaupt zuzulassen, auszudrücken und zu würdigen. Viele Menschen tragen ihre Schmerzen jahrelang mit sich herum, ohne sie je gezeigt oder geteilt zu haben. Sie haben vielleicht gelernt, stark zu sein, zu funktionieren und nach außen hin eine Fassade aufrechtzuerhalten. Doch diese Überlebensstrategie hat ihren Preis: Sie kostet enorm viel Kraft und verhindert, dass die Wunden wirklich heilen können.
In der Therapie geht es daher zunächst darum, diese Mauern behutsam abzutragen und sich dem eigenen Schmerz in einem geschützten, wertschätzenden Rahmen zu stellen. Oft ist schon diese Erfahrung, mit dem eigenen Leid gesehen und angenommen zu werden, unglaublich entlastend und heilsam. Sie ermöglicht es, das Erlebte zu integrieren, statt es zu verdrängen oder abzuspalten.
Auf dieser Basis kann dann allmählich die Bereitschaft wachsen, den Blick zu weiten und auch die Perspektive des:der Anderen einzubeziehen. Nicht um das Geschehene zu relativieren, sondern um zu verstehen, dass auch Täter:innen Menschen mit einer Geschichte und eigenen Verletzungen sind. Diese Einsicht bedeutet nicht, dass wir die Verantwortung für das Geschehene übernehmen oder uns wieder in eine gefährdende Situation begeben müssen. Aber sie kann dazu beitragen, die Last des Grolls und der Verbitterung abzulegen und neue Handlungsfreiheit zu gewinnen.

Mindestens ebenso wichtig wie die Vergebung gegenüber anderen ist jedoch die Selbstvergebung – Studienergebnisse legen sogar nahe, dass Selbstvergebung noch wichtiger als Vergebung ist. Vergebung ist nicht unbedingt nötig, um zu heilen, doch viele Menschen, die Negatives erlebt haben, tragen eine tiefe Scham und Schuld in sich. Sie geben sich selbst die Verantwortung für das, was ihnen angetan wurde, und glauben, etwas falsch gemacht oder nicht genug Widerstand geleistet zu haben. Diese Selbstverurteilung ist eine schwere Bürde, die es ihnen erschwert, sich selbst mit Mitgefühl und Liebe zu begegnen.
Selbstvergebung bedeutet, sich diese ungerechte Schuld von den Schultern zu nehmen und zu erkennen, dass man als Kind oder als Opfer keine Verantwortung für das trägt, was einem zugefügt wurde. Es bedeutet, sich selbst in seiner Verletzlichkeit und seinem Schmerz anzunehmen und sich das Mitgefühl und die Fürsorge zu schenken, die man damals gebraucht hätte. Für viele Menschen ist das ein langer, herausfordernder Weg, auf dem es immer wieder Rückschläge und Selbstzweifel geben kann. Umso wichtiger ist es, sich dabei begleiten und unterstützen zu lassen.
Eine Möglichkeit, Selbstvergebung zu üben, sind Rituale oder symbolische Handlungen. Das kann zum Beispiel bedeuten, einen Brief an das eigene innere Kind zu schreiben, in dem man ihm all die liebevollen, tröstenden Worte sagt, nach denen es sich gesehnt hat. Oder eine Kerze anzuzünden und laut auszusprechen, dass man sich selbst verzeiht und die Bürde der Schuld abgibt. Auch körperbezogene Methoden wie Yoga, Atemübungen oder Selbstberührung können helfen, wieder mehr Vertrauen und Wertschätzung für den eigenen Körper zu entwickeln und ihn als Quelle von Stärke und Lebendigkeit zu erfahren.

Vergessen Sie dabei aber nicht: Vergebung und Selbstvergebung sind keine einmaligen Akte, sondern Haltungen und Praktiken, die immer wieder neu eingeübt werden wollen. Langfristig ergibt sich daraus ein Weg der Befreiung und des Friedens, der es uns ermöglicht, die Vergangenheit zu heilen und uns dem Leben in seiner Fülle und Schönheit zu öffnen.
Ich wünsche Ihnen von Herzen, dass Sie sich auf diesen Weg der Versöhnung begeben können. Dass Sie die Kraft und den Mut finden, sich Ihren Verletzungen zu stellen und die Liebe und das Mitgefühl für sich selbst zu entdecken. Ich bin sicher, dass in Ihnen alles vorhanden ist, was Sie für diesen Prozess brauchen. Und ich verspreche Ihnen, dass es sich lohnt, dranzubleiben und nicht aufzugeben. Denn das größte Geschenk, das Sie sich selbst machen können, ist ein Leben in Freiheit, Authentizität und innerem Frieden.